Das Meilenkonto der Chefunterhändler muss gut gefüllt sein. In den vergangenen Monaten ging es nahezu im Zweiwochen-Takt hin und her zwischen Brüssel, New York und London. Noch im letzten Jahr stand nur alle drei Monate eine Verhandlungsrunde für das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA an.
Die Hektik hat einen Grund: Beide Seiten wollen das ehrgeizige Abkommen bis Jahresende fertigstellen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass TTIP in einer toxischen Mischung aus Präsidentschaftswechsel in Amerika sowie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich und Deutschland hängen bleibt. Das könnte den Abschluss der Verhandlungen um weitere zwei bis drei Jahre verzögern — oder sogar das endgültige Aus bedeuten.
Ein geplantes Treffen zwischen US-Präsident Barack Obama, seinem Chefunterhändler Michael Froman sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström am kommenden Sonntag in Hannover sehen mit den Verhandlungen Vertraute daher schon als „letzte Chance“. Politischer Einsatz auf höchster Ebene soll den Deal unter Dach und Fach bringen, bevor Obama das Weiße Haus verlässt.
Einen Tag später beginnt in New York die 13. TTIP-Verhandlungsrunde, bei der — wie es ein Beamter der EU-Kommission ausdrückt — ein „intensiviertes Engagement“ beider Seiten Fortschritte bringen soll.
„Wenn man dieses Abkommen wirklich will, muss es noch unter dieser U.S. Präsidentschaft fertiggestellt werden“, sagte John Emerson, der amerikanische Botschafter in Deutschland. Im Gespräch mit POLITICO warnte er davor, dass — egal wer das Rennen um Obamas Nachfolge macht — der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin mit Sicherheit Einfluss auf die Verhandlungen nehmen wird. „Die andere Sache ist, dass es nicht nur um die amerikanische Wahl geht … Wir kommen auch in die französischen Wahlen und die Bundestagswahl. Diese verzögern den Prozess weiter.“
Merkel hat den Druck erhöht. Gemeinsam mit den Spitzen der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond und der Welthandelsorganisation veröffentlichte die Bundeskanzlerin Anfang April ein Statement: „Wichtige Fortschritte bei den Verhandlungen“ werden demnach noch in diesem Jahr erwartet.
Es geht nicht nur um die amerikanische Wahl … Wir kommen auch in die Nähe der französischen und deutschen Wahlen. Diese verzögern den Prozess weiter.“ – John B. Emerson, US-Botschafter in Berlin
„Bislang sind die Amerikaner bei den Verhandlungen mit angezogener Handbremse gefahren,“ sagte der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses im Europaparlament. „Ich hoffe wirklich, dass Obama und Froman jetzt einen Gang zulegen.“
In den USA hat sich der Freihandel zum schwarzen Schaf im Wahlkampf entwickelt. Republikanische und demokratische Kandidaten, von Donald Trump über Ted Cruz zu Hillary Clinton und Bernie Sanders, stehen Obamas Handelsagenda kritisch gegenüber. Mehr oder weniger offen implizieren sie, dass neue Abkommen rund um den Globus amerikanische Jobs oder Standards gefährden.
„Die Amerikaner nutzen ihre Präsidentschaftswahlen, um sich nicht bei Themen voran zu bewegen, die sensibel für sie sind,“ sagte Luisa Santos, Direktorin für Internationale Beziehungen bei BusinessEurope, der größten europäischen Wirtschaftslobby. „Es steht seit Anfang an fest dass diese Themen drankommen. Sich jetzt hinter einer Wahl zu verstecken, ist nicht fair.“
Sollten sich die Verhandlungen tatsächlich bis ins nächste Jahr hineinziehen, würde ein Abschluss mindestens bis 2018 oder 2019 verzögert, sagte Hosuk Lee-Makiyama, Direktor des Europäischen Zentrums für Internationale Politische Ökonomie (ECIPE), ein regelmäßiger Berater in Handelsangelegenheiten für Regierungen und die Welthandelsorganisation.
„Wer immer der nächste Präsident wird, wir werden tief ins Jahr 2017 schauen müssen bevor sich da jemand mit Handelsabkommen beschäftigt“, sagte Lee-Makiyama. Die Chancen für einen Abschluss der Verhandlungen in diesem Jahr stünden schlecht. „Es ist nicht schwierig, es ist schlicht unmöglich“, sagte er.
Gefahr für die Demokratie
An zu vielen der 24 Kapitel des Abkommens werde noch immer gefeilscht, selbst an weniger umstrittenen, so Lee-Makiyama. „Wir stecken noch immer in Verhandlungen über rudimentäre Sachen wie Landwirtschaft oder Dienstleistungen, die normalerweise nach vier oder fünf Runden geklärt sind.“
Doch selbst wenn der nächste Präsident bereit wäre, TTIP vom Anfang an zur Chefsache zu machen, bleibt ein unsicheres politisches Umfeld in Europa: Die Franzosen wählen nächstes Frühjahr ihren Präsidenten und im Juni ein neues Parlament. Im Herbst ist Bundestagswahl.
Kaum ein Spitzenkandidat wird sich dann zu den unbeliebten Verhandlungen bekennen wollen, die hinter verschlossenen Türen stattfinden und Kritikern Angriffsfläche bieten. Einen Vorgeschmack liefert bereits der Präsidentschaftswahlkampf in Österreich, wo sich die Kandidaten quer durch alle Parteien von TTIP distanzieren.
„Jede TTIP-Runde erzeugt die Aufmerksamkeit von Kritikern, wir wissen das“, sagte ein hoher EU-Beamter. „Wir bemühen uns, so transparent wie möglich zu sein, aber solche Verhandlungen beinhalten immer ein gewisses Element der Geheimhaltung.“ Ein fertig verhandelter und öffentlich einsehbarer Deal, so der Beamte, böte weniger Raum für Spekulationen und Gerüchte.
Deutschland steht laut Umfragen europaweit gemeinsam mit Österreich an der Spitze der TTIP-Skeptiker. „Die Deutschen sind nicht gegen Handel im Allgemeinen, aber sie lehnen geplante Einschränkungen in TTIP ab, die unsere Demokratie gefährden“, sagte Sven Giegold, der für die Grünen im Europaparlament sitzt. „Wenn die Verhandlungspartner ihren Ansatz nicht ändern, was ich ehrlich gesagt im Augenblick nicht sehen kann, dann wird dies ein Thema in der Bundestagswahl wie auch in anderen Wahlkämpfen in Europa.“
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat sich die AfD ebenfalls als TTIP-Kritiker etabliert.
Zum Schweigen gebracht
In Frankreich ist die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber den TTIP-Verhandlungen bislang deutlich geringer, aber dies ändere sich gerade, sagte der französische Europaabgeordnete Emannuel Maurel. Sollte sich Präsident François Hollande im Wahlkampf hinter die Verhandlungen stellen, würde dies seine Chancen auf seine Wiederwahl schmälern. „Es wird ein großes Thema in Frankreich werden, da können Sie sich sicher sein“, sagte Maurel, ein Parteifreund des Präsidenten.
Frankreichs Handelsminister Matthias Fekl, der deutsche Wurzeln hat, hat sich schon ein paar Schritte von TTIP distanziert. Fekl fordert die USA dazu auf, ebenso wie die Europäer ihre Verhandlungspositionen im Internet zu veröffentlichen, und dem europäischen Vorschlag zur Schaffung eines transparenteren Schiedsgerichtshofes, der Streitfragen zwischen ausländischen Investoren und Regierungen klären soll, zuzustimmen.
Andernfalls, sagte Fekl, „stellt sich die Frage, warum wir überhaupt noch verhandeln“.
In Frankreich hat sich der rechtspopulistische Front National TTIP ebenfalls als Wahlkampfthema auf die Fahnen geschrieben. „Wir werden dieses Thema ganz sicher in unserem Wahlkampf ansprechen“, sagte Philippe Murer, wirtschaftspolitischer Berater der Parteivorsitzenden Marine Le Pen.
Auf die kanadische Art
Angesichts dieser politischen Herausforderungen kursieren Gedankenspiele eines schneller abschließbaren „TTIP light“ auf beiden Seiten des Atlantiks, berichtet CDU-Bundestagsabgeordneter Jürgen Hardt, der als Koordinator für transatlantische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt zugleich vor solch einer abgespeckten Version warnt.
TTIP-light würde sich auf weniger kontroverse Themen konzentrieren. Große Streitpunkte wie das Beschaffungswesen oder Schutzklauseln für die Namensrechte an Schwarzwälder Schinken und bayerischem Bier blieben außen vor. Die EU drängt die Amerikaner dazu, die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand für europäische Unternehmen zu öffnen.
Ein TTIP light wird niemals die Zustimmung des Europaparlaments bekommen“ – Bernd Lange, CDU-Europaabgeordneter
Am Ende würde sich ein TTIP-light hauptsächlich auf die wechselseitige Absenkung von Zöllen sowie die Anerkennung von Sicherheitsstandards und Prüfungen beschränken. Für die europäische Seite sind die wegfallenden Punkte jedoch so bedeutsam, dass ein reduziertes Abkommen wahrscheinlich nicht politisch durchsetzbar wäre. „Ein TTIP light wird niemals die Zustimmung des Europaparlaments bekommen“, sagte Bernd Lange.
Eine andere Alternative wäre, dem Vorbild des kürzlich abgeschlossenen Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada zu folgen, sagte Cécile Toubeau, handelspolitische Analystin bei der Nichtregierungsorganisation Transport & Environment. Bei dem Kanada-Abkommen wurden die Verhandlungen 2014 abgeschlossen, aber beide Seiten nutzen eine Phase juristischer Prüfung für weitere Änderungen am Text abseits der Öffentlichkeit.
Luisa Santos von BusinessEurope erwartet ein politisches Abkommen mit den USA am Ende des Jahres, das die genaue Richtung vorgibt, in die beide Seiten gehen wollen. „Die Unterhändler würden dann nur noch die technischen Details klären“, sagte sie.
Für Jürgen Hardt ist klar, dass die anstehende Verhandlungsrunde in New York substantiellen Fortschritt bringen muss, wenn noch Hoffnungen auf einen Abschluss bis Ende 2016 bestehen sollen. „Das wird eine schwierige Aufgabe, aber wir können es immer noch schaffen wenn der politische Wille da ist.“
Klicken Sie hier, um diesen Artikel auf Englisch zu lesen.